Text: Sanne Mäusling
Bilder: Landtag BW
In der Schule gibt es viele spannende Projekte, die Schülerinnen und Schüler dazu ermutigen, über den bloßen Lehrplan hinauszudenken. Ein Projekt liegt mir als Lehrkraft besonders am Herzen: der Schülerwettbewerb des Landtags, der jedes Jahr unter der Schirmherrschaft der Landtagspräsidentin ausgerufen wird. Die Geschichte davon, was eine Teilnahme bedeuten kann und warum der 65. Schülerwettbewerb des Landtags für eine Schülerin der Klasse 10c zu einem besonderen Erlebnis wurde, soll hier erzählt werden.
Als ich im September 2022 meinen Schülerinnen und Schülern der 10. Klasse die Themen vom Schülerwettbewerbs des Landtags vorstelle, spüre ich eine besondere Energie in der Luft. Die Themenvielfalt bringt einige zum Staunen, während andere schon voller Elan in die Planung einsteigen möchten. Doch bevor es ans Schreiben geht, müssen die Schülerinnen und Schüler ihre Fragestellung und die geplante Umsetzung in der Klasse präsentieren. Nur wenn sie diese gut durchdacht haben, kann ihr Werk am Ende überzeugen. Deshalb werden in kleiner Runde Argumente ausgetauscht und es wird kontrovers diskutiert, um das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Die Fertigstellung der Beiträge bis November stellt zweifellos eine der größten Herausforderungen für alle dar. Die Monate sind prall gefüllt mit Klausuren und anderen schulischen Verpflichtungen. Dennoch ist die Phase der tiefgründigen Überlegungen unglaublich inspirierend und führt auch manchmal dazu, dass eine Idee verworfen oder doch noch einmal neu gedacht wird.
Magdas mutige Entscheidung und ihr bewegendes Gedicht
Eine Schülerin sticht in diesem Jahr besonders hervor: Magdalena Szymanska, von allen nur Magda genannt, kommt bereits zur zweiten Stunde mit einigen ausgedruckten Materialien – zum Teil in polnischer Sprache – zum Unterricht. Sie entscheidet sich für das achte Thema, bei dem die Schülerinnen und Schüler selbst eine Fragestellung formulieren dürfen, die ihnen unter den Nägeln brennt. Sie möchte sich mit den sexuellen Missbrauchsvorwürfen in der Kirche auseinandersetzen. Ich denke, dass das ein harter Tobak für sie ist und dass sie vielleicht zu jung dafür sei. Doch Magda sitzt ganz selbstsicher an ihrem Platz, zeigt ihre Unterlagen und erklärt, dass sie für die Umsetzung die Gedichtform ausgewählt hat. Ich merke, dass ich sie das genau so machen lassen muss, denn sie weiß, was sie schreiben will, und das ist der richtige Raum und die richtige Zeit dafür. Ihre finale Fragestellung lautet: „Wieso gibt es und gab es so viele Sexualstraftäter und wieso wurde ihnen vergeben?“
Die wahre Belohnung: Der Prozess des Durchbeißens und Fertigstellens
Das Paket, das ich Anfang November zur Post bringe, enthält alle großartigen Werke, die in den letzten beiden Monaten von den Schülern und Schülerinnen erstellt wurden. Es ist gefüllt mit vielen klugen Gedanken und zigfach überarbeiteten Versionen ihrer Beiträge. In diesem Paket stecken unter anderem Ideen für nachhaltiges Essverhalten bis hin zu neuen Ansätzen für demokratisches Handeln. Es gibt einen Brief von der Erde an uns Menschen, eine Rede über die Schicksale der Frauen im Iran, ein tiefgreifendes Gedicht über Mobbing und nicht zuletzt die bewegenden Zeilen von Magda, die nun mit dem Titel „Vergib“ überschrieben sind.
Obwohl es schön ist, einen Preis in einem Wettbewerb zu gewinnen und man allen die Daumen dafür drückt, möchte ich meinen Schülern und Schülerinnen vermitteln, dass der wahre Wert darin liegt, sich zu bemühen und sein Bestes zu geben. Sie sind bereits Sieger, unabhängig davon, ob sie einen Preis gewinnen oder nicht. Sie haben sich durchgebissen und ihre Beiträge vollendet – ein Prozess, der nicht selten mit neuen Erkenntnissen einhergeht. Nun bleibt uns nur noch, gemeinsam die Ergebnisse abzuwarten, die im April 2023 bekanntgegeben werden.
Und dann erreicht uns bereits im März 2023 ein ganz besonderer Brief. Darin findet sich eine große Zahl, die verrät, dass fast 2.400 Schüler und Schülerinnen aus ganz Baden-Württemberg in diesem Jahr beim Schülerwettbewerb des Landtags teilgenommen und ihre kreativen Beiträge eingereicht haben.
Doch das wirklich Besondere verbirgt sich in der kleinen Zahl am Ende des Briefs: Drei steht dort. Drei Förderpreisträgerinnen gibt es in diesem Jahr. Und Magda aus der Klasse 10c des Stiftsgymnasiums ist eine von ihnen.
Nur die Beiträge, die sich durch eine außergewöhnliche kreative Umsetzung, Authentizität und Originalität von denen der Erstpreisträger abheben, erhalten den Förderpreis. Das bedeutet nicht nur eine große Ehre, sondern auch ein Förderangebot und ein Preisgeld von 1000 Euro für ihre Arbeit. Die Freude über diese Auszeichnung wird nur noch durch die Einladung der Landtagspräsidentin übertroffen, die zur exklusiven Feierstunde am 5. April in den Landtag einlädt.
Die Preisverleihung: Magdas kraftvolle Worte und berührende Botschaft
Im Plenarsaal des Landtags herrscht absolute Stille, als die Landtagspräsidentin Muhterem Aras den diesjährigen Förderpreisträgerinnen während der Preisverleihung einige Fragen stellt.
Magda steht vorne am Rednerpult und hält das Mikrofon fest in der Hand. Mit großer Bedacht wählt sie ihre Worte und alle Anwesenden hören ihr aufmerksam zu. Im Fokus stehen die Hintergründe und die Intentionen zu ihrem Gedicht “Vergib”. Magda hat mit ihrem Werk ein hochsensibles Thema aufgegriffen, das noch immer ein Tabu darstellt und oft verschwiegen wird: sexueller Missbrauch in der Kirche.
Während Magda spricht, spürt man die Ernsthaftigkeit ihrer Worte und die Kraft, die sie ausstrahlt. Es ist beeindruckend, mit welcher Souveränität sie ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringt und dabei nicht nur ihr Publikum berührt, sondern auch emotional tief bewegt. Man merkt, dass sie sich mit ihrer Arbeit einem sehr schwierigen Thema gewidmet hat und dass sie dabei eine große Verantwortung übernommen hat.
Sie erklärt, dass es ihr nicht darum gehe, die Institution Kirche zu verurteilen oder zu verallgemeinern, sondern es wichtig sei, das Schweigen zu durchbrechen und das Leid und die Bedürfnisse der Opfer sichtbar zu machen. Dann könne man vielleicht ansatzweise verstehen, was sie durchgemacht hätten. Die Form des Gedichts – aus der Perspektive eines Opfers verfasst – lasse dabei jedem Leser genügend Interpretationsspielraum, um sich auf eine besondere, individuelle Art und Weise mit dem Thema auseinanderzusetzen. Magda erhält von den Anwesenden der Feierstunde Applaus. Es ist ein bewegender Moment, der zeigt, wie viel Mut in dieser jungen Frau steckt.
Die Landtagspräsidentin Aras lobt in der Feierstunde Magdas eindrucksvolles Werk und betont, dass es wichtig sei, solche Themen anzusprechen und eine offene Diskussion darüber zu führen, um Tabus zu brechen. Magdas Gedicht sei ein Beispiel dafür, wie junge Menschen mit Kreativität und Tiefgründigkeit wichtige Themen aufgreifen, ihre Stimme erheben und sich damit in die politische Debatte einbringen könnten.
Mit strahlenden Gesichtern und voller Stolz nehmen Magda und die anderen Preisträgerinnen die Urkunden aus den Händen der Landtagspräsidentin Muhterem Aras und der stellvertretenden Vorsitzenden des Beirats des Schülerwettbewerbs, Christine Neumann-Martin, entgegen.
Nach der Preisverleihung herrscht eine freudige Stimmung, während zahlreiche Hände geschüttelt werden und sich die Gelegenheit für Fotos und Gespräche ergibt – insbesondere über die beeindruckenden Beiträge der jungen Talente. Nadine Kußler, die Schulleiterin des Stiftsgymnasiums, beglückwünscht Magda und die anderen Preisträgerinnen herzlich zu ihrem Erfolg. Der Abgeordnete Dr. Matthias Miller nimmt sich ebenfalls die Zeit, um auch mit der Gewinnerin aus seinem Landkreis zu sprechen und seine Gratulation und Anerkennung auszudrücken. Die strahlenden Gesichter der Eltern zeugen von ihrem Stolz und ihrer Freude über die Leistungen ihrer Kinder.
Außergewöhnliche Gelegenheit zum Austausch: Mittagessen mit Landtagspräsidentin und Abgeordneten
Nach der Feierstunde im Plenarsaal führt der Weg gemeinsam mit Frau Aras, einigen Landtagsabgeordneten und der Delegation der Landeszentrale für politische Bildung in das Restaurant des Landtags. Die großartige und wertschätzende Atmosphäre der Feierstunde setzt sich auch beim Mittagessen fort, und es bleibt genügend Raum und Zeit für einen regen Austausch. An der großen Tafel in der Mitte nehmen ausschließlich die Preisträgerinnen zusammen mit der Landtagspräsidentin und die Landtagsabgeordneten Platz, während die übrigen geladenen Gäste sich an den anderen Tischen einfinden. Man spürt, dass es allen ein Anliegen ist, diesen Tag für die Schülerinnen zu einem unvergesslichen Erlebnis zu machen.
Als Abschluss dieses Tages erhalten die Preisträgerinnen auf Einladung der Landeszentrale für politische Bildung noch die Gelegenheit, bei einem Stadtrundgang mit dem Titel “Stuttgarter Frauenpower” ihre Stadt aus einer neuen Perspektive kennenzulernen.
Der Schülerwettbewerb des Landtags als Sprungbrett zur aktiven Mitgestaltung unserer Gesellschaft
Der Wettbewerb bietet den Schülerinnen und Schülern eine einzigartige Plattform, um sich mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinanderzusetzen und ihre Gedanken und Ideen auf kreative Weise zu präsentieren. Er sensibilisiert sie für gesellschaftliche Fragen und ermutigt sie dazu, sich aktiv an der Gestaltung unserer Demokratie zu beteiligen.
Es ist meine Hoffnung, dass auch in Zukunft viele Schülerinnen und Schüler diese Chance nutzen, um ihre Ideen und Gedanken bei diesem Wettbewerb einzubringen und damit ein starkes Zeichen für eine demokratische und weltoffene Gesellschaft zu setzen.
Ich denke dabei an Magda und ihr entschlossenes Gesicht, das mich jedes Mal daran erinnern wird, wie wichtig es ist, den Schülerinnen und Schülern die Freiheit zu geben, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die ihnen wichtig sind. Auch wenn es manchmal schwierig scheint, ist es als Lehrkräfte unsere Aufgabe, sie dabei zu unterstützen. Denn oft sind es gerade solche Themen, die eine starke emotionale Wirkung entfalten und das Potenzial haben, uns alle zum Nachdenken anzuregen.
Magdas Gedicht kann von allen Interessierten in der Schülerzeitung gelesen werden.