Untergetaucht und doch so öffentlich gelebt – der Fall Schönharting                     

20. Dezember 2022

Text und Bilder: Paulina Schimek, Jana Halder (Klasse12)

Am 15. November besuchten wir als Geschichtskurs des Stiftsgymnasiums den Vortrag von Stefan Karner über die Geschichte des NS-Gauleiters und Reichsstatthalters, Sigfried Uiberreither. Dieser konnte 1947 vor der geplanten Verurteilung in einem Kriegsverbrecherprozess fliehen und mit einer neuen Identität als „Friedrich Schönharting“ in Sindelfingen untertauchen.

Dieser außergewöhnliche Fall weckte unser Interesse und ließ bei uns viele Fragen offen. Daraufhin kontaktierte unsere Geschichtslehrerin Frau Berenbold den Stadthistoriker Horst Zecha aus Sindelfingen, der mit Prof. Karner zusammenarbeitet.

Mit den Worten: „Man muss das Unmögliche wagen, um das Mögliche zu erreichen“, versuchte sie ihr Glück. Und tatsächlich konnte sie ihn für unsere Geschichtsstunde fünf Tage später gewinnen. Am 21. November hatten wir dann die Chance, Herrn Zecha in unserer Klasse Fragen zum Fall Uiberreither stellen zu können.

Mit einem Brief aus Hamburg ans Stadtarchiv fing alles an, erzählte der Stadthistoriker, auf die Frage, wie diese außergewöhnliche Geschichte nach Sindelfingen geschwappt ist.

In diesem wurde nach dem Grab von Friedrich Schönharting, alias Uiberreither gesucht.

Mit diesem Schreiben ging Horst Zecha im Jahre 2006 also zum Friedhofsamt, um das Grab ausfindig zu machen.

Zu diesem Zeitpunkt galt es auch zu klären, ob die Doppelidentität des Gesuchten überhaupt den Tatsachen entspricht. Zunächst hat das Stadtarchiv versucht, bei der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg Auskunft zu erhalten. Dort gab es allerdings keine weiterführenden Informationen.

Also führte Horst Zecha seine Suche in der damals verfügbaren Literatur fort, in dieser wurde von einer Flucht Uiberreithers aus Gefangenschaft nach Südamerika berichtet.

Mit diesen Informationen gab es zunächst keine Anhaltspunkte für weitere Recherchen.

Eine zweite Begegnung mit dem Fall gab es im Jahr 2011 in Graz, wo Horst Zecha auf eine Kunstinstallation von Jochen Gerz stieß, die sich mit Uiberreither/Schönharting beschäftigte und wiederum Sindelfingen als Aufenthaltsort ins Spiel brachte.

Als Horst Zecha in einem Grazer Stadtmagazin dann las, dass Uiberreither 1947 nach Sindelfingen gekommen sei und dort mit seiner Familie unter dem Namen „Schönharting“ bis zu seinem Tod gelebt hat, kontaktierte er den Autor des Artikels, der ihn an die historische Landeskommission der Steiermark verwies. So trat er erstmals mit dem Geschichtsprofessor Stefan Karner in Kontakt. Mit dem Fall Schönharting begann so eine außergewöhnliche Untersuchung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.

Auf die wahrscheinlich naheliegendste Frage, warum er ausgerechnet nach Sindelfingen floh, gibt es noch keine Antwort. Hatte er Verwandte, Freunde oder Bekannte in der Stadt? Wie auch heutzutage musste man damals, um in eine Stadt zu ziehen, zum Einwohnermeldeamt gehen. Jedoch war die Flüchtlingswelle in der Nachkriegszeit so groß, dass die Identitätsfeststellung oft sehr schwer war.

„Die Beamten haben Schönharting und der Familie vielleicht einfach geglaubt“, so Zecha und ihnen auch ohne Unterlagen, neue Papiere ausgestellt. Auch die explizite Suche nach dem Kriegsverbrecher war wahrscheinlich nicht sehr intensiv, da das Interesse an Aufklärung damals noch geringer war als heute. Man wollte mit dem neuen Leben fortfahren und die traumatische Zeit des Dritten Reichs hinter sich lassen. Das ist zwar verständlich, aus heutiger Sicht jedoch sehr unbefriedigend, denn Uiberreither war sicherlich kein Einzelfall und mit intensiver Forschung hätte man wahrscheinlich sehr viele Kriegsverbrecher finden können.

Über sein Leben in Sindelfingen weiß man nur sehr wenig. Beginnend mit einer Anstellung bei der Firma Bitzer, im kaufmännischen Bereich, wechselte er später zu der Deutschen Bahn. Seine vier Söhne, die teilweise in Sindelfingen geboren wurden, gingen allesamt an das Goldberg Gymnasium. Seine Frau, die 2012 verstorben ist, war sozial sehr engagiert und war neben ihrer Arbeit an der Sindelfinger Musikschule auch als Küchenhilfe im Eichholzer Täle tätig. Die wohlbekannte Familie lebte also alles andere als versteckt und untergetaucht, sondern war sehr wohl in das Leben in Sindelfingen integriert.

Wie konnte es aber sein, dass die wahre Identität des Geflohenen nie ans Licht kam?

Die mündlichen Aussagen darüber, ob die Geschichte der Familie Schönharting bekannt war, unterscheiden sich. Fakt ist jedoch, dass es nie offiziell bekannt gemacht wurde, die Geschichte Uiberreither wurde bewusst unter den Tisch gekehrt und verheimlicht.

Zu seinem Job bei Bitzer muss Schönharting über diverse Verbindungen gekommen sein, durch den Kontakt zum Bruder von Martin Bitzer vielleicht?

Leider war es zur damaligen Zeit nicht ungewöhnlich, stillschweigend Nazis einzustellen. So muss auch Schönharting an seine Führungsposition bei Bitzer gekommen sein. Trotzdem bleibt diese Verbindung sehr ungewöhnlich, denn Martin Bitzer war alles, aber kein Nazi. Während des Krieges war der praktizierende Protestant sogar Teil der Pfarrhaus-Kette. So wurden in einer Reihe von Pfarrhäusern Juden versteckt und immer wieder weitergereicht, um diese vor Deportation zu schützen. Durch die Kirche werden sich die beiden jedoch eher nicht kennen, denn dass Schönharting gläubig war, ist nicht bekannt. Zudem weiß man, dass er als Gauleiter skrupellos mit der Kirche umgegangen ist. Weshalb die beiden scheinbar trotzdem eine sehr vertraute Bindung zueinander hatten, bleibt bislang ungeklärt.

Es gibt keine schriftlichen Beweise, daher ist man ausschließlich auf mündliche Aussagen angewiesen. Das Problem dabei ist, dass sich Erinnerungen mit der Zeit verändern können. Man muss also, bevor man zu einem Schluss kommt, mit unterschiedlichen Aussagen arbeiten. Deshalb ein erneuter Aufruf an alle Sindelfinger: Um bei der Aufklärung der Stadtgeschichte Sindelfingens weiterzukommen, braucht man Zeitzeugen!

Ein Durchbruch würden sicherlich auch private Dokumente darstellen. So ist man mit den Kindern Schönharting bereits in Kontakt. Doch äußern wollen diese sich noch nicht. Die Aufklärungsarbeit stoppt das aber nicht. Die weiteren Forschungen werden sich neben den Kindern Schönhartings, auf die familiären Verhältnisse der Familie Bitzer sowie deren Verbindung zu Friedrich Schönharting beziehen. Außerdem möchte man erneut städtische Unterlagen durchforsten und versuchen, an amerikanische Akten zu gelangen. Vielleicht könnten diese Auskunft über Schönhartings Entkommen aus Gefangenschaft geben.

Der Fall Schönharting ist und bleibt ein mysteriöser, ja äußerst interessanter Fall, über den im Odeon erstmals in einem wissenschaftlichen Vortrag öffentlich in Sindelfingen berichtet wurde.

Der Vortrag von Professor Karner stieß auf überraschend großes Interesse. „Der Abend war ein absoluter Erfolg und sehr ergiebig für unsere Arbeit“, so Zecha. Auffällig war allerdings der tendenziell hohe Altersdurchschnitt der Besucher.

Lehrerin Siglinde Berenbold wagte das „Unmögliche“ und bescherte der Schülerschaft einen lehrreichen Vormittag

Woran liegt das geringe Interesse der Jugend an der städtischen Geschichte?

Wahrscheinlich hat es mehrere Gründe, dass das Interesse an Geschichte bei einigen Jugendlichen fehlt. Ein Grund ist wohl, dass emotionale Verbindungen fehlen. Zeitzeugen sterben aus, somit kann das Emotionale nicht übertragen werden. Dadurch scheint die Geschichte nicht mehr so präsent zu sein. Diese Annahme ist jedoch nicht zwingend, denn unsere Geschichte bleibt ständig aktuell, was man unter anderem am derzeit stattfindenden Ukrainekrieg sehen kann.

Inwiefern muss geschichtliche Vermittlung also verändert werden, sodass das Interesse an unserer Geschichte nicht ausstirbt?

Eine Problemfrage, die es zu lösen gilt, denn sonst wird uns nicht nur das Interesse, sondern allmählich auch die Geschichte verloren gehen.

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